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VI. Zusammenfassung

l. Vernunft, Wissen und Wahrheit

Anders als allen anderen Wissenschaften ist der Philosophie und in ihr besonders der Logik kein begrenztes Thema, kein schon bestimmter Gegenstand oder Inhalt, und auch nicht eigentlich eine begrenzte Methode vorgegeben. Um Thema und Methode dennoch grob zu charakterisieren, könnte man sagen: Thema der philosophischen Logik sind die Begriffe Vernunft und Wahrheit, konkreter: das Denken, Verstehen und Begreifen überhaupt. Thema ist das menschliche Wissen und Glauben in ihrer 'äußeren' Rolle unter Einschluss der 'Macht' dieser Überzeugungen im Zusammenhang von Lebens- und Handlungsorientierungen. Thematisiert werden dabei freilich nicht besondere und einzelne Inhalte, sondern die allgemeine 'innere' Verfassung oder 'Konstitution' der Form und des Begriffs des Wissens und damit auch des Begriffs der Wahrheit. Thema der Logik ist daher zunächst das Sein oder der Begriff an sich in seinem unmittelbaren Verständnis oder Gebrauch, dann das Wesen als der Begriff für sich oder in der Reflexion auf seine innere Form (qua Theorie) und schließlich die Wahrheit oder Idee als der volle Begriff an und für sich oder der bewusste Gebrauch einer zweckmäßig gewählten Darstellung der Wirklichkeit und der Möglichkeiten - etwa des Handelns.

Normalerweise gebrauchen wir das Wort "Begriff" als Titel für eine schon als allgemein verfügbar unterstellte Bedeutung, etwa eines in seiner semantischen Komposition zumeist komplexen Begriffswortes. Entsprechend unterstellen wir normalerweise, dass der Inhalt eines jeden 'Wissens' irgendwie 'wahr' sein müsse. Hegel kommentiert diese in unsere übliche Grammatik eingelassenen Vor-Urteile, grob gesagt, so: Endliche Begriffe bzw. endliche Einsichten und Erkenntnisse unterscheiden sich von bloß subjektiven Auffassungen und Meinungen zunächst nur dadurch, dass sie (zumindest der Absicht nach) der 'je besten' Entwicklungsstufe der gemeinsamen Bedeutungsbestimmung bzw. 'des Wissens' angehören (sollen). Die Reden von einem wirklichen Begreifen und einer absoluten Wahrheit stehen dann unter der idealisierenden Präsupposition, dass diese Absichten erfüllt und dass die zunächst bloß wirklichen Entwicklungen vernünftig sind, also die Form(en) erfüllen, die einen echten Fortschritt des Verstehens, Begreifens und Wissens ermöglichen oder gar bewirken.

Worte wie "Begriff und "Erkennen" oder "Wissen" sind also in einer analytischen Reflexion auf faktische Ansprüche zunächst immer als Bezeichnung von Oberbegriffen zu deuten: "Wissen" ist primär nur Titel über Systeme von Überzeugungen ('systems of beliefs'), über mehr oder minder funktionstüchtige Gewißheiten und bewährte praktische Institutionen und Formen des üblichen Verhaltens und Handelns. Wenn man auf einen Brauch oder Gebrauch reflektieren möchte, ist die übliche Präsupposition nicht bloß lästig, sondern durchaus irreführend, dass aus jedem Wissen die Wahrheit des Inhalts folge, dass man also nur 'Wahres' wissen könne, oder dass jede Rede über Bedeutungen die eindeutige Bestimmtheit der Bedeutungen und damit eine klare Beziehung der Bedeutungsäquivalenz oder Übersetzbarkeit schon impliziere. Derartige 'Regeln' sind daher zunächst explizit außer Kraft zu setzen. Denn eine kritische und nicht bloß konventionelle Analyse darf nicht einfach unterstellen, die Unterscheidung zwischen einem 'angeblichen Wissen' und einem wirklichen ('echten', 'gediegenen', d. h. entwickelten) Wissen, einer 'guten' Praxis und einer 'dysfunktionalen' sei unmittelbar klar.

Sowohl der Begriff der Wahrheit als auch der Gegenbegriff des bloßen Glaubens oder der bloßen Überzeugung ist konkret gar nicht anders bestimmbar als über den Begriff des bestmöglichen Wissens. Und auch der Begriff (des vollen Begreifens) der Bedeutung ist nicht anders definierbar als über den Begriff des bestmöglichen Gebrauchs einer Differenzierung oder einer Theorie in ihrem konkreten Praxisbezug.

Hegels Auffassung davon, was eine vernünftige Begriffs- und Wissensentwicklung ist, ähnelt dann schon der pragmatischen Einsicht in die Wahrheit als Grenzbegriff des faktischen Verstehens und Wissens. Wie bei Ch. S. Peirce und W. James geht es schon bei Hegel um die Frage nach der Vernünftigkeit einer willentlichen Entscheidung oder Setzung, dieses oder jenes zu glauben, also sich an diesen oder jenen Aussagen in seinem Handeln zu orientieren, und diese Überzeugungssysteme nach und nach zu verbessern. Anders als in den neueren eher relativistischen und historistischen Thesen zur Wissenschaftsentwicklung hält Hegel aber an der als Norm zu begreifenden Bedingung fest, dass jedes 'bessere' System des Wissens, auch wenn es sich um 'revolutionär' neue Darstellungsformen handelt, das funktionstüchtige alte Wissen in befriedigender Form 'aufheben' muss.

Es ergibt sich die weitere Aufgabe, begrifflich zu klären, was die Hypostasierung einer 'absoluten', von unserem Wissen losgelösten Wahrheit überhaupt (konkret) bedeuten kann. Hegels besondere Leistung liegt in der ernsten Berücksichtigung der Tatsache, dass jeder Wissensanspruch (ob in erster oder dritter Person formuliert) immer ein vorläufiger ist, dass jede Beurteilung der 'Wahrheit' oder Berechtigung eines solchen Anspruchs immer nach einer Reflexion, einer nachdenkenden Überlegung, und d. h. im Rückblick geschieht, und dass schließlich die Rede von einer 'absoluten Wahrheit' im Modus eines totalen Rückblicks vom fiktiven Standpunkt einer abgeschlossenen Zukunft aus als Spekulation sub specie aeterni zu verstehen ist, in der ein fiktiver Standpunkt eines Gottes unterstellt wird. Das gilt auch für jeden Objektivismus, etwa auch für jede physikalistische ('materialistische') Metaphysik oder für alle 'spekulativen' oder 'idealtypischen' Reden über eine Entwicklung 'der Kultur' oder 'des Geistes' oder 'der Weltgeschichte'. Das Problem der Analyse des Begriffs der 'objektiven' Wahrheit oder des 'absoluten' Wissens besteht darin, diese Unterstellungen in ihrer Funktion richtig zu begreifen.

Mit dem Titel "Totalität" benennt Hegel eben diese semantische Form einer Rede unter der kontrafaktischen Annahme der Möglichkeit eines 'allumfassenden' Begreifens und Wissens. Es handelt sich dabei immer um die eine oder andere Art einer idealisierenden Extrapolationen faktischen Wissens. Basis einer derartigen Extrapolation ist immer der Begriff des konkreten menschlichen Wissens. Der Begriff Gottes ist daher immer anthropomorph und der Begriff der Wahrheit ist abhängig von der Form unserer Darstellungen und Beurteilungskriterien faktischer Wissensansprüche. Damit wird klar, warum alle traditionellen 'Ontologien' und 'Metaphysiken' als bloß scholastisch-dogmatische Spekulationen durch eine kritische Analyse des Wissens und durch eine Philosophie der Wissenschaften ersetzt werden müssen.

2. Gott als Form spekulativer Rede

Dabei wird das Wort "Wahrheit" nicht etwa aus dem Verkehr gezogen, sondern begriffen als Titel für die wirkliche Form und / oder für das Ideal eines voll berechtigten Wissensanspruchs. Es ist dann nicht etwa nur Hegels Meinung, dass die Philosophie wie die Religion die

„die Wahrheit zu ihrem Gegenstande [haben], und zwar im höchsten Sinn, - in dem, dass GOTT die Wahrheit und er ALLEIN die Wahrheit ist" (§ l).

"Gott" ist ja 'nur' eine personifizierte Ausdrucksweise für den Standpunkt der philosophischen Spekulation, den zu charakterisieren gerade die Aufgabe einer analytischen Erläuterung des Begriffs der absoluten Wahrheit ist. Es gibt nur einen solchen Standpunkt, weil es nur eine Wahrheit gibt: So wird der Begriff der Wahrheit gebraucht und soll auch so gebraucht werden. Aber, und das ist entscheidend, der Begriff des Absoluten, Gottes, der Wahrheit muss sich konkretisieren lassen, und zwar unabhängig vom jeweiligen historischen Entwicklungsstand des Wissens, insofern zeitübergreifend und nicht relativistisch - sonst blieben nur bloße Worte, beliebige Fiktionen, dogmatische oder bloß subjektive Vorstellungen übrig. Diese These Hegels steht offenbar im Widerspruch zum Historismus und Relativismus im allgemeinen, etwa zum 'Perspektivismus' Ortega y Gassets im besonderen; zugleich aber auch zur dualistischen Trennung der Begriffe des Wissens bzw. Erkennens von einem Begriff der Wahrheit 'an sich'.

Das, was mit dem Ausdruck "Gott" sinnvoll gemeint sein kann, das kann man also nach Hegel voll und ganz und immanent wissen, und muss dies können, wenn das Wort nicht völlig leer, bloßes Wort, oder sein Gebrauch nur halb begriffen sein soll. Damit lehnt er alle dualistischen 'Unerkennbarkeitsthesen' ab, die nur allerlei gleichermaßen dogmatische wie willkürliche Reden über Gott oder auch die Wahrheit (als 'Wesen an sich') zur Folge haben. Diese Erkennbarkeitsthese bedeutet aber nicht, dass uns ein archimedischer Standpunkt der absoluten Beurteilung jedes Wissensanspruchs Faktisch zur Verfugung stünde. Gemeint ist nur: Wir können mit der Fiktion eines solchen Standpunktes sinnvoll operieren, und zwar gerade für eine Vergegenwärtigung der Form unserer Bewertungen der Vernünftigkeit oder Unvernunft einer historischen Entwicklung.

Das zeitübergreifende und vom je faktischen Wissensstand unabhängige 'Absolute', die absolute Wahrheit, begreift Hegel daher als die 'ewige' (besser: achrone, zeitunabhängig zu fassende) Form (der Entwicklung) des Wissens. Diese heißt in Anlehnung an Platons Gebrauch des Wortes "eidos" "Idee", womit zugleich der (teleologische) Zusammenhang jedes echten Wissens mit einem (durchaus im emphatischen Sinne) humanen, und d. h. natürlich: allgemein und gemeinsam guten Leben zum Ausdruck kommt. Die Wahrheit selbst wird so zur Idee, zur Form einer Praxis der Entwicklung des Wissens und Könnens, die wir als 'absolute' in Gedanken, d. h. in unserem spekulativen Reden, von allen ('endlichen') Beschränktheiten der konkreten Realisierungen der Form befreien. Gerade darin besteht der sprachtechnisch bedeutsame Schachzug jeder ideativen Rede über Praxisformen und ihre abstrakten Resultate als ideale Erfülltheiten von Bedingungen.

3. Das Fürsichsein der Formen

Der vielleicht wichtigste Schlüssel zu einem angemessenen Verständnis von Hegels Logik und Philosophie besteht in der Einsicht, dass diese letztlich nur Formen analysiert, wobei Hegel erkennt, dass situationsinvariante Inhalte oder Begriffe selbst Formen sind, dass auch Gott und der Geist und die Wahrheit Formen sind, d. h. dass wir im Gebrauch dieser Worte immer nur etwas über die Form unseres Lebens, Handelns und Redens bzw. über die Formen ihrer Entwicklung sagen wollen, und dies in 'spekulativen Sätzen' auch können, wenn wir diese recht begreifen.

Formen als in sich gleiche und von anderen unterschiedene gibt es nun aber immer nur vermittels ihrer Repräsentanten. Diese sind letztlich immer konkrete Gestalten ihrer Realisierungen. Grundlage expliziter Rede über Formen ist die - reflektierende - Vergegenwärtigung einer zumeist vorgängigen Praxis der Bewertung dieser Gestalten als 'von der gleichen Form' oder 'von verschiedener Form'. Dabei ist, wie gesagt, auch die Inhalts- oder Bedeutungsgleichheit als spezielle Formgleichheit zu deuten.

Dass Gestalten selbst Formen sind, ist richtig, aber kein Einwand: Viele Bewertungen von Formgleichheiten sind relativ unmittelbar, etwa nur durch unsere biologische Natur und die erfahrene Welt bedingt: Als Kinder lernen wir z. B. (fast) unmittelbar, allerlei geometrische Gestalten, aber auch Figuren der Bewegung oder Tonfolgen oder Rhythmen in der Wahrnehmung wiederzuerkennen. Das Gefühl einer derartigen Unmittelbarkeit ist aber im allgemeinen, wenn es sich um semantisch tiefere, wesenslogische, Formen handelt, bloßer Schein. Es sind obendrein schon die elementaren Urteile über Gestalten nicht unbeeinflusst von expliziter oder impliziter Erziehung. Es ist also immer zu unterscheiden zwischen relativ äußerlichen Formen, die zunächst etwa durch relativ direkte (unbewusste oder bewusste) Gleichsetzungen von Wahrgenommenem gegeben sind, und den verschiedenen Stufen innerer Formen, die in gewissen Kontexten 'Inhalte' oder auch 'Wesen' heißen. Die Beziehungen der Gleichheit und Verschiedenheit der Wesen sind im allgemeinen wesentlich komplexer als im Fall der äußeren Form, wenn nämlich nicht schematisch (rein figürlich oder äußerlich in der Wahrnehmung) bestimmt ist, was als verschiedene Repräsentationen oder Äußerungen des gleichen Inhalts und was als Äußerungen von zu unterscheidenden Inhalten anzusehen (zu verstehen) und dann entsprechend gleich oder verschieden zu behandeln (zu begreifen) ist.

Bewusst werden Formgleichheiten erst in reflektierender Distanz. Damit werden sie konkret begriffen als Setzungen von Gleichgültigkeitsbeziehungen (Äquivalenzen) zwischen den realen Repräsentanten der Formen auf der Basis von gemeinsam klassifizierten Gestalten oder Figuren. Diese Beziehungen tragen bei Hegel den Titel "Fürsichsein", da sie die Identität der Form definieren und damit die Bedingung der Möglichkeit jeder Beziehung der Form auf sich sind. "Für etwas sein" versteht Hegel, nach meiner Lesart, so, als wäre es die deutsche Übersetzung des lateinischen "pro aliquid esse", das inhaltlich bedeutet (oder zumindest bedeuten kann): "ein Verhältnis zu etwas haben", "in Relation zu etwas stehen". Jedes Fürsichsein ist dann - objektstufig gelesen - eine (reflexive) Beziehung von etwas aufsich. Nur generische, also abstrakte, Gegenstände, die durch Gleichgültigkeitsbeziehungen zwischen einzelnen Repräsentationen konstituiert sind, können überhaupt in reflexiven Beziehungen stehen: Nur sie 'haben' ein "sich"' - so dass schließlich auch das 'Ich' des Bewusstseins bzw. Selbstbewusstseins und jeder Selbstbeziehung als abstraktes Ich, als Form, zu deuten sein wird. Bloß formalistisch (äußerlich) sind dabei die reinen Bezeichnungsidentitäten der Form „A = A" - wobei freilich auch hier noch zwischen den zwei Vorkommen (oder 'token') der gleichen (abstrakten) Figur oder Gestalt (des gleichen 'types') A unterschieden werden kann.

Auch ein Körper ist in seiner Identität durchaus etwas Generisches: Er kann von verschiedenen Menschen zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten ggf. trotz unterschiedlicher äußerer Gestalt als gleicher wiedererkannt werden. Daher (und nur daher) gibt es nichttriviale Beziehungen des Körpers auf sich, etwa als Beziehungen raumzeitlicher 'Teile' des Körpers zu anderen raumzeitlichen Teilen, so wie sich etwa ein Teil meines Körpers zu einem anderen Teil verhält, oder ein Teil eines Körpers im Ablauf der Zeit 'zu sich selbst' dadurch eine Beziehung eingeht, dass sich an ihm oder um ihn etwas ändert. In gewissem Sinn ist also auch jeder physische Körper etwas Abstraktes: Seine Identität ist geformt, natürlich passend zu realen intersubjektiven Identifizierbarkeiten in einer Raum-Zeit-Ordnung von Phänomenen, genauer: der Darstellung der Erfahrung der Relativbewegungen der Körper. Das ist schon eine Grundeinsicht Kants.

Nach Hegel wird erst im Fürsichsein ein Inhalt, der als solcher immer ein abstraktes 'Wesen' oder innere Form ist, in seiner Identität bewusst begriffen, auch wenn dieser 'an sich', und das heißt bei Hegel: in einer (bloß) faktisch schon praktizierten objektstufigen Differenzierung und Gleichgültigkeitsbewertung, 'implizit' als bekannt und verstanden gilt.

Vor dem Hintergrund dieser Einsicht verstehen wir dann auch Hegels Definition des 'Fürsichseins' als 'Negation der Negation', ohne dass uns die Zweideutigkeit des Wortes "Negation" allzu sehr beunruhigen müsste - im Gegenteil: Da "Negation" sowohl 'Verneinung' bedeutet als auch 'Differenzierung' bedeutet eine Negation der Negation nichts anders als den Verzicht auf weitere (im Prinzip mögliche) Differenzierungen, wie er jede Gleichsetzung oder Äquivalenz konstituiert.

"Die Bestimmtheit ist die Negation als affirmativ gesetzt, ist der Satz des Spinoza: 'Omnis determinatio est negatio'. Dieser Satz ist von unendlicher Wichtigkeit. ..". "DIE EINHEIT DER SPINOZISTISCHEN SUBSTANZ- oder dass nur Eine Substanz ist, [ist] die notwendige Konsequenz .... Ebenso kann die Substantialität der Individuen nicht gegen jenen Satz bestehen. Das Individuum ist Beziehung auf sich dadurch, dass es allem andern Grenzen setzt; aber diese Grenzen sind ... Beziehung auf anderes" (L I, 100; TW 5, 122).

Die Spinozistische Substanz erweist sich damit als Gesamtbereich der uns möglichen Unterscheidungen, In dieser Sicht der Dinge lassen sich die kategorialen 'Begriffe' Sein und Denken, Wahrheit und mögliches Wissen begrifflich überhaupt nicht einander entgegensetzen, wie dies die Erkenntnistheorie bis Kant zu tun scheint. Negation und Negation der Negation, Differenzierung und Identifizierung, gemeinsame Klassifizierungen von Erfahrungen und Situationen, werden so zur Basis jedes (Selbst)Bewusstseins, und damit des Geistigen bzw. des Geistes im allgemeinen, des einzelnen Subjekts in seiner Individualität im besonderen.

Daher beginnt jedes Denken und jedes Bewusstsein mit dem (metastufigen) Aufmerken auf Formen - was nur durch die Unterscheidung einer Form von anderen und durch die Identifizierung der im Grunde immer unendlichen Möglichkeiten einzelner Repräsentationen der Form möglich ist. Man denke etwa an die unendlich vielen Möglichkeiten, die Zahl 5 zu repräsentieren.

Die Äquivalentsetzung 'unendlich' vieler Repräsentanten konstituiert die Formen in ihrer (situations- und damit auch zeitunabhängigen) Identität und ihrem 'Selbst' oder 'Sich' allererst. In diesem 'achronen' und 'raumlosen' Fürsichsein der allgemeinen Formen zeigt sich der einzig 'wahre Begriff der Unendlichkeit': nämlich als Form (vgl. § 95). Dies gilt bemerkenswerterweise auch für 'den Raum' und 'die Zeit', die je nur als die allgemeine Form räumlicher und zeitlicher Bestimmungen (geometrischer Gestalten, Daten und gemessener Zeitzahlen) wirklich 'unendlich' sind.

4. Bewusstheit als Wahlmöglichkeit

Für bewusste Formen des Redens und Handelns gibt es aus begrifflichen Gründen immer Alternativen: Bewusst sind sie nämlich gerade dadurch, dass sie objektiviert sind, und d.h., dass sie in einem größeren Bereich von Möglichkeiten in ihrer Identität durch die Unterscheidung 'ihrer' Repräsentanten von Repräsentanten 'anderer' Formen ausgesondert sind. Wir können dann eine der Alternativen aus allerlei, hoffentlich guten, dann immer aber auch endlichen, begrenzten, Gründen faktisch ergreifen - oder auch nicht. Eine Formgleichheit wird uns also gerade dadurch bewusst, dass sie als expliziter Verzicht auf weitere mögliche Differenzierungen begriffen ist.

Die Grundstruktur des Begreifens bzw. des Begriffes als des (je konkret oder ideal) Begriffenen, sieht Hegel dabei so: Indem wir eine Praxis (Gewohnheit, einen Gebrauch) explizit darstellen und damit in einer reflektierenden Rückwende objektivieren, erfassen wir sie immer als endliche Praxis, in einer ihrer Form(en). Gerade damit können wir ihre Bedeutung in Bezug auf ihre je begrenzten Zwecke und Zusammenhänge im Rahmen des Gesamts unseres Lebens, etwa auch im Vergleich zu möglichen Alternativen (je besser) begreifen.

Hegel wendet diese Grundeinsicht in die Struktur des Begreifens verständlicherweise gleich an auf die Praxis der Reden der Philosophie. Dies hat dann unter anderem zur Folge, dass z. B. jedes bloß traditionale (konventionell-dogmatische) Verständnis der Rede von Objektivität und Existenz, Wahrheit und Wirklichkeit zunächst in seiner faktischen Form vergegenwärtigt (charakterisiert) werden muss. Dann erst lässt sich der mögliche Sinn derartiger 'metaphysischer' Reden in Ausgrenzung möglicher Fehlverständnisse aufdecken. Die genannten Begriffsworte dürfen also in der Philosophie auf keinen Fall so verwendet oder 'verstanden' werden, als seien sie schon begriffen. Es muss vielmehr auf ihren sinnvollen Gebrauch reflektiert werden - und dabei kommen wir dann um die logisch keineswegs einfach zu analysierende Tatsache nicht herum, dass unser Wirklichkeits- bzw. Wahrheitsbegriff und unsere Begriffe der Notwendigkeit, Möglichkeit und Freiheit alle schon durch uns selbst (aber natürlich nicht privatim) geformt oder konstituiert sind.

5. Zur Entwicklung von Bedeutungen

Inhalte qua Differenzierungen und Gleichsetzungen stehen immer im Rahmen einer tradierten gemeinsamen Lebenserfahrung, Lebenspraxis und Lebensform. In diesen Traditionen allein können wir bewusste eigene Erfahrungen machen - und dies dann durchaus auch gegen die bzw. im Widerspruch zu den bloß tradierten Formen. Gerade dadurch können wir die Formen weiterentwickeln, etwa die jeweiligen Formen der Artikulation eines konkreten Wissens. Diese Entwicklung ist ein Fortschritt - unter der Voraussetzung, dass sie der Idee der Wahrheit bzw. des Wissens entspricht, und das heißt, eine sinnvoll geformte Entwicklung ist.

Die 'Logik dieser Entwicklung' heißt bei Hegel "Dialektik". Sie ist im Unterschied zur formalistischen Logik der äußeren Formen, der Wortarten, Sätze und Deduktionsschemata etwa, eine Logik der Inhalte, also allgemeine, aber doch zugleich auch formale Semantik. Man könnte Hegels These, dass die Logik Dialektik sei, auch so formulieren: Keine wirklich angemessene, nicht bloß oberflächliche Semantik, auch wenn sie synchron die Bedeutungen eines faktischen (Sprach)Gebrauchs analysieren möchte, kann von der diachronen Konstitution dieses Gebrauchs und den ihm 'historisch' zugeordneten begrenzten Rollen absehen, die dieser Gebrauch etwa für die Lösung von allerlei Problemen der Kommunikation und des gemeinsamen Lebens spielt.

Hegel sieht gerade auch deswegen in der Idee die allgemeine Form der Bestimmung der Inhalte im Rahmen der Entwicklung von Differenzierungen und Nicht-Differenzierungen (Gleichheiten), und zwar je in Abhängigkeit und/oder in Bezugnahme auf größere Zweck- oder Lebenszusammenhänge.

"Die Logik ist die Wissenschaft der reinen Idee, das ist der Idee im abstrakten Elemente des Denkens" (§ 19). "Die Idee ist wesentlich Prozess" (§ 215). Sie "ist das Wahre an und für sich" (§ 213), sie ist "die reine Form des Begriffs, die ihren Inhalt als sich selbst [d. h. als Form!] anschaut".... "Als Form bleibt hier [d. i. im Bereich einer bloß logischen Betrachtung, dem 'System des Logischen'] die Idee nichts als die Methode dieses Inhalts, - das bestimmte [d. h. in den Artikulationen der dialektischen Logik bewusst differenzierte] Wissen von der Währung ihrer Momente" (§ 237).

In der Logik werden nämlich nur die 'reinen', d. h. formalen, von jedem Inhalte absehenden Formen der Entwicklung der Inhalte oder inneren semantischen Formen analysiert und kategorial, d. h. unter allgemeinen Gesichtspunkten der Ausdrucksform bzw. der semantischen Form gegliedert. Der letzte Satz verweist auf die 'Aufhebung' eines 'Widerspruchs', eines Problems, oder auch einfach eines Vorschlages zur Veränderung eines Brauchs oder Gebrauchs - der Sprache etwa. Derartiges ist das Movens bei der Entwicklung von Begriffen und anderer Gebräuche (Institutionen): Zu Bewahren ist das Bewährte, zu versöhnen ist das je Neue mit dem je Alten, da es nur dann eine bewusste, vernünftige, kontrollierbare Entwicklung des Wissens und der Erfahrungen und in ihr eine Dauer und Einheit geben kann. Die Momente sind die Ergebnisse letztlich historischer Veränderungen der sprachlich und institutionell geformten und so differenzierten Lebenspraxis, sie sind diachron betrachtet Schübe der Entwicklung. Synchron betrachtet sind sie unablösliche Bestandteile der Praxis, die explizit gemacht werden müssen, wenn wir diese als ganze begreifen wollen. Vom Ergebnis der Analyse her gesehen sind Momente vielfach auch 'Gesichtspunkte' eines komplexen Gebrauchs, spielen für diesen eine 'funktionale Rolle'.


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