Wahrheit

"Die Wahrheit lautet: es gibt keine Wahrheit"

...ist, in 1001erlei Form abgewandelt, das Grunddogma unserer Zeit. Vom Ästhetizismus über esoterisch / religiöse / lebenskluger Bescheidenheit bis zu den Relativismen von Historismus, Hermeneutik, Soziologie usw. (bestimmte Richtungen des Marxismus und der Psychoanalyse zähle ich auch dazu), allen ist gemein, Gedanken nicht primär "für sich" zu prüfen, auf ihre Richtigkeit (wie das ginge, darüber ließe sich hier wohl Einigkeit erzielen: im prüfen der Gedanken auf ihrer inneren Konsistenz, ihrer Übereinstimmung mit möglichst vielen Besonderheiten der Tatsachen, usw., siehe z.B. der Begriff-Artikel), sondern ihr messen an einem vorausgesetzten externen Maßstab (Zeitgeist, Klassenbewusstsein, Persönlichkeit / Entwicklung / Situation des Schöpfers der Gedanken, ästhetische Kriterien, die "Funktion" der Gedanken für irgendetwas anderes (die Gesellschaft, den Fortschritt, den Staat usw.)).

All dies kann man machen und bringt auch interessante Resultate, aber a) ist es ein externer Standpunkt und b) ist selbst nicht begründet oder setzt bereits Wahrheit / Begründung voraus.

Hegel nannte daher derartige Aufrufe zur Bescheidenheit in seiner Vorrede zur Enzyklopädie auch selbst widersprüchlich.

Um mal ins praktische / politische zu wechseln, vielleicht wird es dann verständlicher:

Du kannst Kritik auf zweierlei Weise machen:

a) Relativistisch: alles entlarven als nur bedingt geltend, alles hat seinen Grund (und zwar einen schlechten): die (männliche, aggressivem, falsch erzogene, westliche usw.) Psyche des Autors, in unserer Gesellschaft, in unserer Zeit usw.usw.

Damit sollen die herrschenden Ideen (als die Ideen der Herrschenden) in ihrer Geltung untergraben werden.

Werden sie auch. Bloß: auch die Kritik untergräbt sich damit den eigenen Standpunkt, auch sie ist nur beschränkt, relativ, "Ideologie". Letztlich wird eine Abwertung des Gedankens erreicht und es gilt das was eh gilt, und jeder darf sich einen -garantiert nicht verbindlichen- Gedanken dazu machen.

(Führt also, unreflektiert / einseitig, eher zur Aufhebung der Kritik, ja zur Unterbindung der Möglichkeit von wirkungsvoller Kritik die auf Konsequenzen drängt. Ich fürchte, wir können die -leider- schrecklichen Konsequenzen dieser sich tot gesiegt habenden Strategie der 68er ff am eigenen Leibe / im eigenen Lande spüren).

b) Absolut: Du begründest die absolute Geltung eines Prinzips o.ä. Hier denkt der unter a) sozialisierte Intellektuelle gleich an Herrschaft, Staatstragend usw. (darüber habe ich mich ein bisschen in dem Vernunft Aufsatz ausgelassen).

Einfache Überlegung: das was gilt benötigt (bei uns zumindest) nicht unbedingt seine Begründung. Begründet werden (aus gutem Grund <g>) vor allem "Anträge auf Änderungen" (Vergleiche den Artikel zur Meinung).

Nachdem sich a) "tot gesiegt" hat (s.o.) scheint mir der Weg, Anträge auf Änderungen durch möglichst starke, grundsätzliche Argumente zu untermauern, der vielversprechendere Weg zu sein (das schließt übrigens a nicht aus, sondern gibt ihm überhaupt erst festen Grund).

Verweise:

Auf den Artikel zur Meinung habe ich ja bereits im Text verwiesen.
eine logisch-inhaltliche Kritik an den üblichen Linken a)-Kritiken findet sich in dem Artikel Genese vs. Geltung
Der Artikel zur linken Moralkritik ergänzt sich gut damit.
Das Thema Wahrheit wird in den Thesen zur Wahrheit ergänzend behandelt.

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